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Abstract:
Wenn es um die Novelle geht, neigt man in der germanistischen Literaturwissenschaft zu gegenteiligen Ansichten: Viele glauben, sie sei eine strenge Form und geschlossene Gattung. Andere sind davon überzeugt, die Novelle gebe es nicht. Der Vortrag nimmt diese spezifisch germanistische Problemlage zum Ausgangspunkt für den Bedarf nach einer Lösung für ein allgemeineres Problem: Gattungsgeschichte bedarf komplexer Modelle, die nicht nur unterschiedliche Faktoren literarischen Wandels in Rechnung stellen, sondern auch unterschiedliche Funktionen von Gattungen zu berücksichtigen erlauben. Die vorgestellte Lösung besteht in einer multiperspektivischen Modellierung von Literaturgeschichte, die mit quantitativen Analyseverfahren einen hohen Grad an Heterogenität literarischer Gattungen in den Blick zu nehmen erlaubt. Vorgestellt wird ein Metamodell, das Gattung nicht länger als eine Relation zwischen Textmerkmalen und Gattungszugehörigkeit begreift, sondern als ein triadisches Relationsbündel zwischen Text, begrifflicher Zuordnungspraxis und Kontext. Um diese Relationsbündel auflösen zu können, werden auf der Grundlage maschinellen Lernens Verfahren zur Modellierung der Vagheit von Gattungsbegriffen vorgestellt. Für die Frage, wie sich Gattungen eigentlich im Kräftefeld konkurrierender Faktoren zur Prägung literarischen Wandels verhalten, wird eine Faktorenanalyse entfaltet. Schließlich gilt es Gattung auch als politische Strategie zu verstehen. Der Vortrag versteht sich in dieser Weise als ein von einem konkreten historischen Problem ausgehender Entwurf für die Entwicklung komplexer Modelle, die geeignet sind, literaturgeschichtliche Fragen mit der erforderlichen Tiefenschärfe zu beantworten.
Short bio:
Julian Schröter is Professor of Digital Literary Studies at the Ludwig Maximilian University of Munich. Previously, he was a research assistant in Würzburg and, after a professorship substitution at the University of Trier, a Walter Benjamin Fellow (DFG) in Antwerp and at the University of Illinois at Urbana-Champaign. In addition to literary theory and the methodology of Computational Literary Studies (CLS), his work focuses on suspense narratives, the media and literary history of the 19th century and 20th century novels.