Zur Geschichte der Niederdeutsch-Philologie an der Universität Rostock

Die Beschäftigung mit dem Niederdeutschen an der Universität Rostock kann auf eine mehrhundertjährige Tradition zurückblicken, die ihren Anfang bereits weit vor Eröffnung des hiesigen Germanistischen Instituts im Jahre 1858 nahm. Rostocker Gelehrte des 16. bis 19. Jahrhunderts beteiligten sich federführend an der Auseinandersetzung um das Für und Wider der Pflege des Niederdeutschen und veröffentlichten Forschungsarbeiten zur mecklenburgischen Mundart. Zu ihnen gehören vor allem der berühmte Rostocker Poet und Philologe Nathan Chyträus (1530-1600), der 1582 sein lateinisch-niederdeutsches Wörterbuch „Nomenclator latinosaxonicus“ veröffentlichte, in dem er unter anderem auf die Vielfalt der in der Stadt Rostock gesprochenen Varianten des Niederdeutschen aufmerksam machte. Im Jahre 1704 legte Bernhard Raupach (1682-1745) eine Dissertation unter dem Titel „De linguae Saxoniae inferioris neglectu atque contemtu injusto. (Von unbilliger Verachtung der plattdeutschen Sprache)” vor, in der er sich gegen die allgemeine Geringschätzung des Niederdeutschen aussprach.

Auch in den darauffolgenden Jahrzehnten beteiligten sich Rostocker Gelehrte wie die Professoren Johann Friedrich Pries (1776-1832) und Victor Aimé Huber (1800-1869) intensiv an den zeitgenössischen Debatten um die Stellung und Funktion des Niederdeutschen. Zugleich erschienen in dieser Zeit mehrere Studien zum Niederdeutschen, so etwa das „Idioticon Mecklenburgicum. Veröffentlichung alter niederdeutscher Texte mit Erläuterung“, das Mitte des 18. Jahrhunderts von Ernst Johann Friedrich Mantzel (1699-1768), in den „Etwas von gelehrten Rostockschen Sachen“ (1737-1748) herausgegeben wurde.

Mit der Gründung des Deutsch-Philologischen Seminars an der Universität Rostock im Jahre 1858 – dem ersten Germanistischen Institut in Deutschland – wurde die Erforschung des Niederdeutschen weiter intensiviert. So beschäftigte sich der Gründer des Seminars, der Altphilologe Karl Bartsch, unter anderem mit mecklenburgischen Sagenstoffen. Zudem erschienen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verschiedene Dissertationen zum Niederdeutschen. Aus der Menge der vorgelegten Schriften zur älteren und neueren niederdeutschen Sprache und Literatur aus dieser Zeit sei lediglich eine kleine Auswahl angeführt:

  • 1869, Karl Nerger: Grammatik des mecklenburgischen Dialekts.
  • 1886, Fritz Peters: Der Satzbau im Heliand.
  • 1887, Otto Küntzel: Künstlerische Elemente in der Dichtersprache des Heliand.
  • 1890, Helmuth Seltz: Der Versbau des Reineke Voss.
  • 1912, Wilhelm Rust: John Brinckmans hoch- und niederdeutsche Dichtungen.
  • 1927, Paul Beckmann: Der Lautstand der Rostocker Mundart auf historischer Grundlage.

Auch Karl Bartschs Nachfolger, Reinhold Bechstein, der von 1871 bis 1895 an der Universität Rostock tätig war, bezog niederdeutsche Themen in seine Lehrveranstaltungen ein. Nach Bechsteins Tod im Jahre 1884 führte Wolfgang Golther von 1895 bis 1920 diese Tradition fort. Seit 1907 forderte Golther zudem die Einrichtung einer Professur für niederdeutsche Philologie. Dieser Forderung wurde 1920 mit der Gründung eines Lehrstuhls für Niederdeutsch – dem zweitältesten seiner Art in Deutschland (lediglich der Hamburger Lehrstuhl für Niederdeutsch wurde ein Jahr früher eingerichtet) – entsprochen. Die Gründung war unter anderem mit der Erwartung verbunden, das schon lange geforderte Mecklenburgische Wörterbuch herauszubringen. Zunächst trug man diese Aufgabe dem berühmten mecklenburgischen Volkskundler Richard Wossidlo an, der sie jedoch aufgrund seines bereits vorgerückten Alters ablehnte. Als Nachfolger Golthers wurde somit der Germanist und Dialektologe Hermann Teuchert auf den neugegründeten Lehrstuhl berufen. In Zusammenarbeit mit Richard Wossidlo gründete Hermann Teuchert 1926 ein Archiv zur Erfassung des mecklenburgischen Wortschatzes. Dieses Wörterbucharchiv sollte zur Grundlage für das siebenbändige „Mecklenburgische Wörterbuch“ werden, dessen erste Lieferung zum Band I im Jahre 1937 erschien. Die Arbeiten am Mecklenburgischen Wörterbuch sollten sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken, der siebente und letzte Band des Wörterbuches konnte im Jahre 1992 vollendet werden.

Unter Hermann Teuchert fand eine kontinuierliche Forschung und Lehre zum Niederdeutschen statt. Teucherts Forschungsinteresse war vor allem sprachhistorisch und lexikographisch ausgerichtet und umfasste die mecklenburgischen Sprachgeschichte, die sprachlichen Relikte niederländischer Siedler des 12. und 13. Jahrhunderts im Niederdeutschen sowie die Arbeit am Mecklenburgischen Wörterbuch. Nach der Emeritierung Hermann Teucherts führte Hans Joachim Gernentz diese Arbeit weiter fort. Forschungsschwerpunkte von Hans Joachim Gernentz waren insbesondere die mittelalterliche Sprache und Literatur sowie die niederdeutsche Sprache und Literatur Mecklenburg-Vorpommerns.

Nachdem Hans Joachim Gernentz im Jahre 1983 emeritiert wurde, blieb der Lehrstuhl für niederdeutsche Philologie zunächst unbesetzt. Dennoch fand das Niederdeutsche weiterhin insbesondere in sprachhistorischen Lehrveranstaltungen sowie in Gestalt von Diplomarbeiten Berücksichtigung. Mit dem Wintersemester 1992/93 wurde wieder eine Professur für niederdeutsche Philologie eingerichtet. Die neue Lehrstuhlinhaberin, Irmtraud Rösler, führte die traditionellen Schwerpunkte der Rostocker Niederdeutsch-Philologie fort, die vor allem im sprach- und literaturhistorischen Bereich lagen, setzte aber auch neue Akzente in Forschung und Lehre, indem zunehmend syntaktische, soziolinguistische und kommunikativ-prag­matische Aspekte der niederdeutschen Sprachgeschichte thematisiert wurden. Zudem leitete Irmtraud Rösler die Arbeiten am historischen Schreibsprachenatlas „Atlas ostmittelniederdeutscher Schreibsprachen“ (s. unter Forschung) Ziel dieses Atlasprojektes ist die Erfassung und kartographische Darstellung der historischen Schreibsprachen des östlichen mittelniederdeutschen Sprachraumes des 14. und 15. Jahrhunderts. Für ihre Bemühungen um die osteuropäische und insbesondere die lettische Germanistik erhielt Irmtraud Rösler im Jahre 2001 die Ehrendoktorwürde der Universität Lettlands in Riga. Nach ihrer Emeritierung im Jahre 2007 übernahm Andreas Bieberstedt 2009 die nunmehr als W2-Professur für niederdeutsche Sprache und Literatur ausgeschriebene Stelle.

Die gegenwärtige Niederdeutsche Philologie an der Universität Rostock bildet einen integralen Bestandteil des Instituts für Germanistik und ist sowohl sprach- als auch literaturwissenschaftlich ausgerichtet. Gleichzeitig jedoch versteht sich die Niederdeutsche Philologie aufgrund der Spezifik ihres Gegenstandes als eigenständige Fachdisziplin. Gestützt wird sie in dieser Position unter anderem von der „Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ (kurz: Sprachen-Charta), die 1999 in Kraft getreten ist und in der Niederdeutsch als eigene Regionalsprache aufgeführt wird, deren Schutz und Förderung in Landesverfassung verankert ist. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die mittelniederdeutschen Schreibsprachen des 14. und 15. Jahrhunderts sowie die aktuelle Entwicklung der niederdeutschen Sprache im Kontext von Modernisierung und Urbanisierung.