Forschungsübersicht

1. Allgemeine Arbeitsfelder der Niederdeutsch-Philologie

Die Arbeitsfelder der Niederdeutschen Philologie lassen sich grundsätzlich den übergeordneten Fachdisziplinen Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Mediävistik zuordnen, wobei der Forschungsschwerpunkt traditionell auf den Bereichen Gegenwartssprache und niederdeutsche Sprach- und Literaturgeschichte, insbesondere der mittelniederdeutschen Periode liegt. Aber auch die verschiedenen Erscheinungsformen der neueren niederdeutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts sowie der unmittelbaren Gegenwart werden intensiv erforscht, ebenso die Verwendung des Niederdeutschen im Medien- und Kulturbereich, zum Beispiel in Rundfunk und Fernsehen, in der Presse, im Theater sowie in Kulturvereinen und Literaturgesellschaften. Da sich historische und gegenwartsbezogene Fragestellungen in der Niederdeutschen Philologie nur schwer voneinander trennen lassen, sind die Arbeitsfelder der Mediävistik in der folgenden Auflistung den Bereichen Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft zugeordnet.

Die Sprachwissenschaft des Niederdeutschen umfasst vor allem die folgenden Arbeitsfelder:

  • Sprachstrukturelle Beschreibung des Niederdeutschen auf den verschiedenen Ebenen des Sprachsystems: Phonetik/Phonologie, Graphematik, Morphologie, Lexikologie, Syntax, Textgrammatik
  • Sprachgeographische Beschreibung des Niederdeutschen in seinen verschiedenen regionalen Ausprägungen (= Areallinguistik und Stadtsprachenforschung)
  • Untersuchung der Formen und Konsequenzen des Sprachkontakts und der hochdeutsch-niederdeutschen Mehrsprachigkeit (= Mehrsprachigkeits- und Sprachkontaktforschung)
  • Analyse der sozialen Determination des Gebrauchs und der Bewertung von Niederdeutsch und Hochdeutsch (= Soziolinguistik)
  • Analyse der sprecherspezifischen Wahrnehmung und Bewertung regionaler Sprachformen (= Perzeptionslinguistik und Sprachbiographieforschung)
  • Analyse der Erscheinungsformen und Regularitäten (substandard)sprachlicher Kommunikation (= Pragmalinguistik und Kommunikationswissenschaft)
  • Analyse des Erst- und Zweitspracherwerbs mit Bezug auf die spezifische Sprachenkonstellation Hochdeutsch-Niederdeutsch (= Spracherwerbsforschung)
  • Beschreibung der historischen Entwicklungsstufen des Niederdeutschen unter Berücksichtigung sprachstruktureller, areallinguistischer, sozio- und textlinguistischer, kommunikativer und sozialhistorischer Gesichtspunkte (= Sprachgeschichte)
  • Sprachtheoretische / dialekttheoretische Arbeit (= Sprach-/Dialekttheorie)

Die Literaturwissenschaft des Niederdeutschen beinhaltet vor allem folgende Arbeitsfelder:

  • Wissenschaftliche Edition und Kommentierung niederdeutscher Texte
  • Untersuchung niederdeutscher Handschriften und Frühdrucke
  • Analyse und Interpretation literarischer Texte
  • Analyse literarischer Stoffe und Motive, auch in komparatistischer (literaturvergleichender) Sicht
  • Geschichte der niederdeutschen Literatur, besonders unter Berücksichtigung sozialer und kultureller Zusammenhänge (z.B. des Zusammenhanges mit anderen Literaturen) sowie der Rezeption
  • Wertung von Literatur (historisierende und aktualisierende Kritik)
  • Theorie und Praxis der Übersetzung
  • Theorie der Dialektliteratur

Einen besonderen Schwerpunkt der Niederdeutschen Philologie bildet traditionell die Erstellung wissenschaftlicher Wörterbücher zu den einzelnen niederdeutschen Mundarten. Hierbei bewegt sich die niederdeutsche Lexikographie im Schnittpunkt von Linguistik, Volkskunde und Literaturwissenschaft. Die zum Teil mehrbändigen Wörterbücher wie etwa das Mecklenburgische, das Pommersche und das Hamburgische Wörterbuch stellen das Ergebnis mehrjähriger, zum Teil jahrzehntelanger gemeinsamer Forschungstätigkeit mehrerer Wissenschaftler in speziellen Arbeitsstellen dar. Gleiches gilt für die Wörterbücher zu den historischen Sprachstufen des Niederdeutschen, vor allem für das Mittelniederdeutsche Handwörterbuch.

2. Forschungsschwerpunkte der Rostocker Niederdeutsch-Philologie

Die Erforschung der niederdeutschen Sprache und Literatur blickt in Rostock auf eine lange Tradition zurück, die in ihren Anfängen eng mit dem Namen des Volkskundlers Richard Wossidlo (1959 - 1939) verbunden ist, dessen Arbeit die Grundlage für das spätere Mecklenburgische Wörterbuch bildete. Standen zunächst Fragen der Gliederung, der (lautlichen) Struktur und des Wortschatzes der mecklenburgischen Mundarten im Vordergrund des Interesses, so rückten ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkt syntaktische, textlinguistische und sozio-kommunikative Aspekte in den Forschungsfokus. 

Derzeitige Forschungsschwerpunkte bilden Fragen nach der Struktur, dem Wandel und der Verwendung des Niederdeutschen in der modernen, zunehmend urbanisierten Gesellschaft sowie variablenlinguistische und grammatische Aspekte des Mittelniederdeutschen (das heißt des historischen Niederdeutschen der Zeit zwischen ca. 1200 und 1600). Mit dieser wissenschaftlichen Ausrichtung greift die Rostocker Niederdeutsch-Philologie aktuelle Fragestellungen und Forschungsansätze der Varietätenlinguistik, der Mehrsprachigkeits- und Sprachkontaktforschung, der Sprachbiographieforschung sowie der Soziolinguistik und Dialektologie auf. Gleichzeitig wird die traditionelle sprachhistorische Ausrichtung der Rostocker Niederdeutsch-Philologie fortgeführt.